(von Thanassis Kalaitzis)
Mara und Timo sind seit 9 Jahren verheiratet. Im Alter von 23 hatten sie kurzen Prozess gemacht und sich für ein Leben ohne böse Überraschungen, also ein gemeinsames entschieden.
Timo mit Ingenieursausbildung hatte direkt nach dem Studium eine Mittelschichtsstelle mit gut über 40Kilo Startgehalt p.a eingefahren, seither hatte sich die Zahlen jährlich um ein paar Kilo erhöht auf den Lohnabrechnungen des Energieproduzenten, für den er vor allem Effizient und Aufträge erzeugte.
Mara hatte eine Bankkauffrau abgeheftet im Dokumentenordner und nach nur zwei Jahren in der langweiligsten Filiale der Welt in Friedenau hatte sie gefühlte 20 Kilo mehr auf der Hüfte als Timo in die Filiale kam. Er plante auf Eigentumswohnung und hatte sich, wie alle Einkommensnachwüchsler, beraten lassen bis zum Umfallen. Er hatte einen Enthusiasmus und einen Optimismus an den Tag gelegt – das hatte sie beeindruckt und auch ein wenig verlegen gemacht. Verlegen und auch neidisch, weil sie sich, nur drei Monate älter als ihr Kunde, gelegentlich schon den Vorwurf machte, zuviel in den Tag hineinzuleben, zu oft zu machen, wonach ihr gerade war, auch wenn das hieß, nichts zu machen und keinerlei Zukunftspläne zu haben.
Das änderte sich, als sie dann mit Timo ging. Sie bewarb sich weg von der Bank und eine Stiftung schickte sie in die Entwicklungshilfe, erst als Buchhalterin für Projekte, dann auch an die Standorte in den Entwicklungsländern, weil ihr Interesse für die Arbeit vor Ort sichtbar wurde, ebenso wie ihr Gespür für Verhandlung und Strategie. Das waren vier wechselhafte Jahre gewesen, zwei Jahre davon mit mehreren Besuchen in Moldavien und zwei volle Jahre in Myanmar. Danach sollte das Baby kommen. Es wurde eine Fehlgeburt. Timo, der inzwischen selber viel unterwegs war, hing damals gerade in Venezuela fest, Wahlkampf, Streiks, in einem der wichtigsten Ölproduzentenland der Welt kein Flugbenzin. Mara hatte das damals alles nicht verstanden. Was sie in dem einem Jahr Berufspause verstanden hatte war, dass sie nie wieder wegen ihrer eigenen oder wegen der Karriereentscheidung eines anderen Menschen leiden wollte.
Sie hatte in der Stiftung gekündigt und sich lokal beworben. Die Ausflüge in die weite Welt waren schön und gut. Was sie in den Büros und den Hotelbars der Welt für Einblicke in die Politik des Managements bekommen hatte, von Firmen und Organisationen, die ihre zukünftigen Arbeitgeber hätten werden können, hatte ihr auch nach dem besten zureden von Timo nicht gefallen. Timo, der seit Venezuela zwischen Berlin und Brüssel pendelte, hatte sie lange zu überzeugen versucht, dass es wichtiger war, die richtigen Positionen zu suchen und nicht die dazugehörigen Aufgaben. Und Brüssel hatte seine Lust auf mehr Größe und mehr Macht angefacht. Schon nach einem Jahr in der europäischen Hauptstadt war er für Mara eine jener Personen geworden, wegen der sie ihre prestigträchtige Karriere beendet hatte. Maras Maß war die Herrschsucht dieser meist männlichen Personen ab, die sich vor allem in ihrer Manager-Sonne sonnten aber wenig Wärme in die Welt gaben. Sicher war sie sich damals noch nicht, ob Timo schon so einer war. Aber allein dass er ihr immer wieder sagte, dass sie sich nur hocharbeiten müsse, fand sie verdächtig. Nach der Erfahrung in der Stiftung hatte sie ernsthaft Zweifel, dass allein ihre gute Arbeit sie zu einer Managerin werden lassen würde. Wenn das so einfach war wie Timo immer wieder herunterbetete, wo waren denn die andren Frauen unter der Manager-Sonne? Warum saßen in den klimatisierten Eck-Büros nur klimakterische Männer mit entweder Übergewicht oder Über-Autos als Erfolgsanzeiger?
Mara entschied sich für das Angebot eines lokalen, sozialen Trägers an. Sie hatte gemischte Aufgaben, die von Anträgen über Interkultur nach Zielvereinbarungen reichten. Warum sie aber zugesagt hatte waren die wöchentlichen Besuche von Einrichtungen für Obdachlose, Prostituierte und Flüchtlinge. Ihr Job waren Menschen und keine Zahlen. Das wollte sie. Auch wenn es beschämend schlecht bezahlt wurde. Sie hatte ja noch Timos Kreditkarte.
Maras heutiger Tag war der Gesundheitsvorsorge für männliche Sexarbeiter gewidmet. Fast alle kamen aus Südosteuropa, nur wenige konnten Deutsch. Mara beriet die meisten mit Hilfe eines Dolmetschers, denn die Risiken dieser Arbeit war fast keinem der Jungs bewusst.
Sie liebte diese Tage mit den Menschen im Gegensatz zu ihrer früheren und jetzigen Papierarbeit. Papier, besonders digitales, war geduldig, es musste nur mit den richtigen Dingen beschrieben werden. Menschen konnte man nicht so passend machen. Und man brauchte nicht nach Moldavien oder Myanmar, Sumatra oder Sudan fahren, um das gleiche Elend, den gleichen Stolz, die gleiche Verzweiflung und den gleichen Lebensmut zu sehen, wie hier mitten in Berlin: in den Wärmestuben, in den Arztmobilen, in den Kleiderausgaben, in den Notküchen. Dort war Mara seit vier Jahren jede Wochen.
Dort wo man sich nicht den nächsten Kommissionsjob, den nächsten Prestigeposten, den nächsten aufgeblasenen Exotikurlaub wünschte, sondern sich damit begnügte, den nächsten Tag heil zu überleben, eine Schlafstatt zu haben, die man nicht im Einkaufswagen zum nächsten Standort schob, und wo man sich wünschte, nicht geschlagen oder vergewaltigt zu werden, nicht beklaut zu werden, unversehrt zu bleiben. Und selbst dieser kleine Wunsch wurde vielen, die Mara besuchte, nicht gewährt. Im Gegensatz zu jenen, die sich unermüdlichen als Manager Manager Manager bezeichneten, und die sich mehr einräumten, als sie brauchten und verdienten. Timo fand Maras Geisteswandel schäbig, fand sie unnötig sozial, sie solle an sich denken und wohin sie zusammen kommen könnten. Aber für zusammen irgendwo hin kommen, sah Mara zur Zeit gerade nicht den gemeinsamen Weg. Timo machte munter seine Dienstreisen mit 5Sterne – sie hatten eh kaum Zeit füreinander, für gemeinsame Schritte auf einem gemeinsamen Weg.
Als Mara mit ihrem Tag fertig war hatte sie unzählige Gespräche im Medizinmobil für die Sexarbeiter geführt. Sie hatte Jungs zwischen 18 und 28 beraten, hatte empfohlen, gemahnt, gefordert, getröstet, Ansagen und Mut gemacht oder war einfach nur als Mensch dagewesen, ohne Rang, ohne Machtgefälle. Danach beschloss sie, sich ein neues Kleid kaufen, mit der Gold-Kreditkarte Timos und dann zu Freunden in den Garten fahren. Entspannt, sie musste nicht Jemand sein – eine kleine Pause vom Leben als Administratorin und pausierende Ehefrau.
Mara hatte gute Laune, als sie mit ihrem kleinen Rover an der Bushaltestelle vor dem Büro die Fenster herunterließ und den olivhäutenen und unendlich gut aussehenden jungen Mann fragte, ob sie ihn mitnehmen könne. Sie fahre nach Neukölln Kreuzberg, Schöneberg Mitte, sie würde sich freuen. Er stieg tatsächlich ein und setzte sich mitten auf das blau-weiße Erste Hilfe-Paket das Mara seit der letzten Weihnachtsfeier mit Wichtelrunde auf dem Beifahrersitz zum Vergessen geparkt hatte. So lange fuhr sie also schon alleine dieses Auto. Dann wurde es ja Zeit, dass sich das änderte. Sie warf das Ding achtlos nach hinten und der junge Mann stellte sich als Mano vor. Ein äußerst reizenden Gespräch entspann sich, das, nicht ohne Maras Insistenz, zu einer abendlichen Verabredung wurde. Sie ließ Mano schließlich am Kottbusser Tor raus und fuhr mit gelöster Stimmung nach F-Hain weiter.
Wer weiß, was morgen passieren würde, vielleicht war heute ihr letzter Tag auf diesem Planeten. So oder ähnlich sagte das jedenfalls immer ihre 82jährige Nachbarin, die Mara immer eine Lebensweisheit mitgab, wenn sie das eine oder andere aus dem Supermarkt für Fr. Broranke mitbrachte. Fr. Broranke sammelte in ihrem Alter immer noch Flaschen zur Aufbesserung ihrer Rente – nach 47 Jahren Lebensarbeitszeit. Fr. Broranke hatte auch einen Deal mit der beiliegenden Gartenkolonie, Blumen und Früchte sammeln zu dürfen. Was sie verkaufte, durfte sie behalten, was nicht, verbrauchte sie selbst.
Als Mara knapp zwei Stunden später in ihrem neuen Kleid vor dem Garten ihrer Freunde ausstieg, war ihr leicht ums Herz. Sie erhielt ein neidloses Lob von der Gastgeberin, die ihr zu dem Schwarzen, sommerlich Ärmellosen gratulierte. Besonders gefielen ihr das diskrete graue Blättermuster und die silbergrau abgesetzten Kanten. Vom Gastgeber erhielt sie einen Kohlrabi, den er gerade geerntet hatte und eine freundliche Umarmung mit einem Kompliment zu ihrem Aussehen, Dann gab es Kaffee und Gespräche, die Sonne schien noch sehr heiß, es würde ein wunderbarer Sommerabend werden. Der Kohlrabi landete in der Handtasche, die sie schon mit noch zu erledigenden Unterlagen vollgestopft hatte. Fr. Broranke würde sich sicher über das gemüsige grüne Geschenk freuen. Und ihr wieder einen guten Rat mitgeben. Heute vielleicht: Denken sie auch mal an sich und legen sich einen gutaussehenden Liebhaber zu. Oder: Trennen sie sich endlich von diesem Langweiler. Welchen sollte sie beherzigen?
Vielleicht einfach beide. Fuck Goldkreditkarte. Fuck Timo. And Fuck Mano. Heute abend.