(von Jörg Olvermann)
Stachelbeeren im Schwalbennest
Abends schrieb Lena in ihr Tagebuch:
– Eine Scheibe Pumpernickel
– Ein halber Apfel
– 100 Gramm Magerquark
ist gleich 189 Kilokalorien.
Das war unter 200. Das war gut. Die 200er Marke hatte sie erst vor einigen Wochen aufgestellt. Davor waren es 250 und davor 300. Angefangen hatte sie irgendwann mal mit 1.000 Kalorien pro Tag, aber das musste schon Monate her sein.
Am nächsten Morgen stellte sich Lena auf die Waage. Ihre Mutter heulte bereits, bevor die elektronische Anzeige das Ergebnis verkündete: 39,8 Kilo. Lena betrachtete sich im Spiegel. Dort, wo ihre Mutter nur noch die abgemagerten Reste ihrer 14 jährigen Tochter erkannte, sah sie ein trauriges Mädchen, das ihr immer noch ein wenig zu dick erschien. Trotzdem war sie auch ein bisschen stolz.
Unter 40 – das war die magische Pforte, an der die elterliche Fürsorge, das Bitten und Betteln der Oma, doch endlich anständig zu essen und der wöchentliche Gang zum Kinderpsychologen ein Ende hatten. Lena wurde in eine Spezial-Klinik eingewiesen – weit weg von zu Hause. Und alles ging viel schneller, als sie es erwartete. Die Ärzte sprachen von „Lebensgefahr“, „ernsthaften Entwicklungsstörungen“, einer Situation, die so „nicht hinnehmbar“ war.
Und so begab es sich, dass sich die gesamte Familie nur 3 Tage später in den Zug setze und die lange Fahrt in die große Stadt auf sich nahm. Sie hatten ein ganzes Abteil für sich. Lenas Mutter weinte, Papa vergrub sein Gesicht hinter der Sportbild, Lenas Schwester whats appte mit ihren Freundinnen und stöhnte in regelmäßigen Abständen, wenn es kein Netz gab.
Dabei griff sie immer wieder in Omas Tupperware-Schüssel mit dem Streuselkuchen, von dem Oma eigentlich hoffte, dass Lena ihn aß. Opa nahm auch ein Stück heraus, hielt es Lena unter die Nase und sagte:
„Du musst doch nur essen, mein Schatz, dann wird alles gut.“
Darauf hin rastete Lenas Mutter endgültig aus, sprang auf und schrie:
„Ihr macht es euch doch alle viel zu einfach!“
Die Klinik, in die Lena gebracht wurde, war auf essgestörte Kinder und Jugendliche spezialisiert. Lena zog in die Wohngruppe „Schwalbennest“ im zweiten Stock eines freundlichen Neubaus, dessen Rückseite an einen kleinen Park grenzte. Neben Lena wohnten hier sieben weitere Kinder, deren Namen sie schon kurz nach der Ankunft auswendig kannte, ebenso wie deren Kurzbiographien. Da gab es Dennis, den Psycho der schon mal geritzt hat, Nele, die mit 17 immer noch nicht ihre Tage hatte und ihre Zimmernachbarin, Maria, die mit den rot unterlaufenen Augen, die auch 14 war aber bulemisch, also im Gegensatz zu ihr nicht zu wenig aß, sondern sehr viel, das dann aber wieder auskotzte. Deshalb blieb das Bad ihrem Zimmer auch abschlossen. Lena und Maria durften nur hinein, wenn ein Betreuer dabei war.
Der Tagesablauf im Schwalbennest war straff organisiert. Morgenrunde, Frühstück, Einzeltherapie, Ruhezeiten, Zwischenmahlzeit, Gruppentherapie und so weiter.
Das Klinikgelände verlassen durfte man für 2 Stunden am Nachmittag, aber nur, wenn die festgelegten Gewichtsziele erreicht wurden.
Die Mahlzeiten waren reichhaltig und mussten immer gemeinsam eingenommen werden. Mit dem Essen tat sich Lena furchtbar schwer. Manchmal dauerte es über 30 Minuten, bis sie ein halbes Brötchen aufessen konnte. In ihren Gedanken kreiste danach alles darum, wie sie die gerade verspeisten 160 kcal am schnellsten wieder loswerden konnte. Sport war im Schwalbennest aber streng verboten und dazu zählte schon schnelles Gehen auf dem Flur oder Seilhüpfen im Park.
Trotzdem: Lena hatte hier zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Außerdem waren die Betreuer cool! Sie waren viel jünger als die Eltern, hießen Eva, Jonas, Josy und Ben und sie redeten mit ihr wie mit einer Erwachsenen.
Und dann gab es natürlich Amira. Amira, die war nun wirklich super mega terra endcool. Lena fand, dass sie aussah wie die Caro aus „Berlin Tag und Nacht“, mit den langen schwarzen Haaren, dem Nasenring und dem tätowierten Schwarzen Adler am Hals. Die vielen Festivalbändchen am Armgelenk kündeten außerdem von einem ausschweifenden Party-Leben.
Amira war die Leiterin der so genannten Genussgruppe. Hier sollten die Kinder lernen, Lebensmittel nicht nur auf ihren Kaloriengehalt zu reduzieren, sondern wieder Freude finden am Riechen, Schmecken und Essen. Immer montags, mittwochs und samstags kam Amira auf die Station und brachte einen großen Weidenkorb mit, der mit einem karierten Tuch bedeckt war. Sie erzählte, dass Sie gerade von einem Wochenmarkt, von einem Bio-Bauern oder aus einer Gärtnerei kam. Amira verband dann allen die Augen und bat die Kinder, eine Hand auszustrecken, in die sie dann etwas aus dem Weidenkorb legte.
„Fühlt mal vorsichtig, was da in Hand liegt. Nehmt euch Zeit, es anzufassen“, sagte Amira, die mit einem merkwürdigen Akzent sprach, den Lena nicht zuordnen konnte.
Vorsichtig betastete Lena den Inhalt ihrer Hand. Er war rund und prall. Etwa so groß wie eine Murmel. Aber viel leichter. Und ein bisschen haarig. An einem Ende hatte die Kugel eine kleine Einkerbung, an der anderen Seite so etwas wie einen Stachel – Ja, es war eine Stachelbeere.
„Wenn ihr Lust habt, nehmt es Mund und beisst hinein. Konzentriert euch darauf, wie es sich anfühlt und wie es schmeckt“, sagte Amira weiter.
Lena war aufgeregt. Sicher, 100 Gramm Stachelbeeren hatten nur 44 Kalorien, diese eine, die ja höchstens 5 Gramm wog dann ja nur etwa 2. Aber je mehr sich Lena vorstellte, die Frucht tatsächlich essen zu müssen, umso größer wurde sie in ihrer Vorstellung. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweissperlen. Ihre Hand verkrampfte, so dass sie die Beere fast zerdrückte. Schließlich stopfte sich die Stachelbeere in den Mund und begann, mit großen Kaubewegungen auf der Frucht herumzubeissen. Die Frucht platzte und die schleimigen Samen füllten ihren Gaumen. Lena kaute immer schneller und die Menge an Fruchtfleisch schien jetzt immer größer und größer zu werden. Schließlich kam es ihr vor, als hätte sie eine ganze Wassermelone im Mund. Sie wollte jetzt nur schnell runterschlucken und Amira anlächeln, aber statt dessen gab sie ein alienmäßiges Würgegeräusch von sich und spuckte alles in hohem Bogen aus.
Maria, die ihr gegenüber saß, schrie auf und wischte sich Stachelbeerschleim aus dem Gesicht:
„Lena, du Spast! Überlass das Kotzen einfach mir, okay?!“, rief sie genervt.
Zuhause wäre das jetzt stundenlang Thema gewesen. Hier im Schwalbennest machte niemand um so eine Sache großen Wirbel. Amira wischte mit einem Taschentuch die Reste vom Boden, lächelte Lena an und fragte:
„Möchtest du uns erzählen, was du gerade erlebt?“
Lena schüttelte ihren hochroten Kopf. Damit war die Sache erledigt.
Das heißt nicht ganz. Im Schwalbenest wurden Vorfälle wie das Stachelbeerkotzen natürlich genau registriert. Bei der nächsten Einzeltherapie hakte Frau Dr. Schmalenberg – die Therapieverantwortliche und einzige im Betreuer-Team, die nicht geduzt werden durfte – nach:
„Lena, versetz dich noch mal hinein in die Situation in der Genussgruppe. Was war das Schlimmste für dich?“
Lena musste lange nachdenken. Dann sagte sie:
„Ich habe Amira enttäuscht.“
„Glaubst du denn, du musst essen, damit Menschen um dich herum nicht enttäuscht sind?“, fragte die Schmalenberg.
„Klar, meine Mutter ist ja auch traurig, weil ich nicht esse“, antwortete Lena.
Nehmen wir mal an, Amira oder deiner Mutter wäre es total egal, wie, wann wieviel oder was du isst? Und sie würden dich trotzdem mögen, so wie du bist? Wäre es dann leichter?“ Die Schmalenberg nagte nun an ihren Bleistift und wartete gespannt auf Lenas Antwort.
„Ich weiß es nicht, aber vielleicht sollte ich mich gar nicht um so sehr andere kümmern, sondern eher alleine für mich entscheiden?“, fragte Lena unsicher zurück.
„Das solltest du einfach mal ausprobieren“, sagte Frau Dr. Schmalenberg zufrieden und notierte mit dem Bleistift etwas auf dem Zettel, der in ihrem Schoß lag.
Und dann kam der Nachmittag, an dem Lena die Klinik zum ersten Mal allein verlassen durfte. Auf dem Bürgersteig vor dem Schwalbennest fielen ihr zunächst die Pflastersteine auf. Hier waren sie rautenförmig angeordnet, zu Hause hingegen in geraden Linien verlegt. Lena begann die Pflastersteine auf ihrem Weg zu zählen. 1,2,3,4,5,6. Natürlich kam sie beim Zählen immer wieder durcheinander. Sie begann dann einfach wieder von vorne.
Und dann kam sie auf eine Idee: Die höchste Zahl, die sie heute „er-zählte“ wollte sie sich merken, und dann etwas essen, das genau jene Anzahl an Kalorien besaß.
Als Lena bei etwa 370 wieder einmal beim Zählen durcheinander geriet, blickte sie auf. Sie stand vor der Eingangstür eines Cafés mit einer riesigen Kuchentheke.
Sie ging hinein.
„Was darf‘s denn sein?“, fragte die Verkäuferin, die einen Nasenring trug genau wie Amira.
„Ein Stück Stachelbeerkuchen“, sagte Lena.
„Gern. Mit Sahne?“, fragte die Verkäuferin.
Lena schüttelte energisch den Kopf. 370 Kalorien hatte der Kuchen sicher schon alleine.
„Jut, bring ick dir, meine Kleene“, sagte die Verkäuferin und drehte sich Richtung Kuchentheke.
Lena legte das Geld auf den Tresen und setzte sich an einen der kleinen Bistro-Tischchen am Rande.
Sie war jetzt wirklich aufgeregt.
Melonentorte im Goldbrunnen
„Ich bin Jüdin“, sagte sie.
„Und ich war ein echter Nazi, sagte er.
„Du warst kein echter Nazi. Du warst ja noch ein Kind“, sagte sie und lächelte.
„Welches Baujahr bist du?“, fragte sie weiter.
„28. Mein Bruder Siggi ist Jahrgang 23. Mein Vater ließ ihn am Abend der Machtergreifung mit einer Fackel durchs Dorf marschieren. Ich durfte mit, obwohl es schon spät war. Mitten auf dem Dorfplatz lief er im Kreis. Und ich stand mit Vati und unserer polnischen Magd Agnieszka am Rand und applaudierten“.
„Ihr hattet eine polnische Magd?“, fragte sie.
„Ja, wir lebten doch in Westpreussen nahe der Grenze. Viele Polen lebten dort. Agnieszka war wunderbar. Nach dem frühen Tod meiner Mutter war sie wie eine Ersatzmutter für uns.“
„Und was ist dann während der Nazi-Zeit mit ihr passiert?“, fragte sie und schob sich ein Stück Melonentorte in den Mund.
„Sie blieb bis 39 bei uns. Ein, zwei Tage nach Kriegsausbruch ist sie dann verschwunden. Mein Vater hat nie darüber gesprochen, aber ich glaube er hat sie weggeschickt. Es wurde zu gefährlich für sie. Sie zog zurück zu ihren Eltern nach Krakau. Ihr Bruder war Pfarrer. Sie hat den Krieg wohl überlebt“, sagte er.
„Jaja, damals ging es nur ums Überleben“, sagte sie.
Nachdem Rosa diesen Satz gesagt hatte, wurden Gustavs Augen feucht. Er schaute sich um. In den kleinen Café, in dem er sich mit Rosa verabredet hatte, waren kaum Tische besetzt um diese Zeit. Nur direkt neben ihnen saß ein schüchternes Mädchen vor einem Stück Stachelbeerkuchen und starrte aus dem Fenster. Dann wandte sich Gustav wieder an Rosa:
„Und, Rosa, wenn du Jüdin bist, wie hast du denn überlebt?“
Rosa legte die Kuchengabel aus der Hand und tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab.
„Meine Eltern, also mein Vater und mein Onkel, die hatten ja ein großes Herren-Ausstatter-Geschäft am Hackeschen Markt. Der Laden ging über 4 Etagen. Unterwäsche, Hemden, Hosen, Anzüge, Fracks, Hüte und so weiter. Unser Glück war, dass meine Oma eine sehr kluge Frau war. Sie hat Hitlers Aufstieg schon früh vorhergesagt und meinte immer: Wenn der dran kommt, dann sind wir alle tot. Ich glaube sie war die einzige in Deutschland, die „Mein Kampf“ wirklich gelesen hat“, sagte Rosa.
„Ja und dann? Was habt ihr gemacht, als Hitler an die Macht kam?“, wollte Gustav wissen.
„Erst mal nichts,“ sagte Rosa, „bis 1938 erst mal gar nichts. Mein Vater war stur und wollte in Berlin bleiben. Es war ja seine Heimat. Erst nach der Kristallnacht konnte sich meine Oma durchsetzen. Wir haben das Geschäft an einen befreundeten Kaufmann verkauft. Herrmann Kugler. Der hatte schon ein Damenmodegeschäft in der Linienstraße. Er hat uns einen guten Preis bezahlt.“
„Und dann seid ihr ausgewandert? Nach Montevideo?“, fragte Gustav.
„Nicht so schnell Gustav, nicht so schnell. Wie heißt es doch: So schnell schießen die Preussen nicht!“, sagte Rosa. Sie lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Kaffee.
„Herrlich,“ sagte sie, „fast so wie gut wie in Südamerika. Nur diese Melonentorte – die schmeckt nach gar nichts. Ich hätte besser Stachelbeere genommen,“ sagte Rosa und deutete auf den Nachbartisch, wo der Stachelbeerkuchen immer noch unberührt auf dem Kuchenteller vor dem jungen Mädchen lag.
Gustav und Rosa kannten sich seit etwa 6 Stunden. Erst am Morgen dieses schönen Sommertages hat er sie gesehen. Sie trug ein strahlend weißes Sommerkleid mit Spitzenbesatz und beige Damenhandschuhe.
„Willkommen in ihrem neuen Zuhause, Frau Perlzweig“, begrüßte sie der Portier der Senioren-Residenz Goldbrunnen.
Die Residenz war in einem frisch renovierten Altbau der Universitätsklinik untergebracht und bestand aus großzügigen 2-Zimmer-Wohnungen, die nach modernstem Standard barrierefrei und pflegegerecht ausgebaut worden waren. Hinter dem Gebäude lag ein kleiner Park, zu dem auch die neu angebrachten Balkone ausgerichtet waren. Im Goldbrunnen gab es 24 Stunden Full Hotel Service und beste medizinische Versorgung. So versprach es zumindest die Broschüre.
Gustav, der gerade von einem kleinen Spaziergang im Park zurückkehrte traf also im Foyer auf Rosa und der Portier witterte sogleich die Chance, die beiden bekannt zu machen.
„Herr Schulz, darf ich Ihnen unsere neueste Bewohnerin vorstellen. Frau Perlzweig.“
„Angenehm, sagte Gustav. Ich heiße Gustav Schulz und wohne im 2. Stock. Parkseite.“
„Angenehm, Rosa Perlzweig. Ich komme aus Montevideo.“
„Montevideo. Und was verschlägt sie dann nach Berlin.“
„Das ist eine lange Geschichte, Herr Schulz. Aber wenn sie mir Gelegenheit geben, mich ein paar Stunden auszuruhen, dann können wir uns gern zu einem Nachmittagscafé verabreden, sofern ihre Gattin nichts dagegen hat.“
„Äußerst gerne, liebe Frau Perlzweig“, sagte Gustav, „meine Gattin hat mir auf dem Sterbebett zugeredet, ich möge nach ihrem Tod noch viele schöne Jahre haben. Um 15 Uhr also im Café hier vorne an der Ecke?“. Sein Herz pochte. Rosa nickte und erschien Punkt 15 Uhr in einem gestreiften Kostüm und einem rosé farbenen Damenhut.
„Also lieber Gustav,“ setzte Rosa ihre Geschichte fort, „als mein Vater das Geschäft 38 verkaufte, da ließ er sich den Kaufpreis vom Kugler in Gold auszahlen. Mit den Reichsmark hätten wir ja woanders nur schwer was anfangen können. Meine Eltern und mein Onkel sind dann zuerst nach Lissabon gezogen. Dort war es für Juden einigermaßen sicher und meine Mutter wollte sowieso schon immer ans Meer. Um aber bei der Ausreise nicht aufzufallen sollten meine Schwester und ich über einen anderen Weg dorthin gelangen. Uns schickte man deshalb zu einem befreundeten Diamantenhändler nach Antwerpen. Wir kamen im August 39 dort an und wenige Tage später brach der Krieg aus.
„1. September 39“, fiel ihr Gustav ins Wort. „Mein Bruder war gerade 16 geworden und war so traurig, dass er noch zu jung war für die Wehrmacht und nicht mit einmarschieren durfte in Polen“.
„Und wir, wir waren voller Angst, weil alle ahnten, dass Hitler bald auch in Frankreich und Belgien einmarschieren würde. Es wurde zu gefährlich für uns. Aber es dauerte dann aber über ein halbes Jahr, bis wir endlich gefälschte Pässe in der Hand hatten und gefahrlos nach Lissabon weiterreisen konnten. Von dort, sind wir auch direkt aufs Schiff nach Südamerika“.
„Was für ein Glück ihr doch hattet“, sagte Gustav.
„Ja, die Perlzweigs haben immer Massel. „ Die Masselzweigs“ hat uns unsere Mutter genannt. Und weißt du, wie wird das Gold vom Kugler durch die Welt geschmuggelt haben? Mein Vater hat‘s in die Koffer einnähen lassen. Münze für Münze. In Montevideo hat er einfach die Koffernähte aufgetrennt und das Gold wieder rausgeholt.
„Mein Vater hat mit dem Krieg alles verloren. Das Gutshaus in Preussen, das Aktienvermögen. Und alles, woran er geglaubt hat. Zum Glück ist es mir besser ergangen. Ich habe in Westberlin nach dem Krieg ein Autohaus gegründet.“
„Sag mal Gustav,“, unterbrach ihn Rosa und flüsterte. „Das Mädel neben uns sitzt jetzt schon seit einer halben Stunde und hat noch nicht mal die Hälfte von ihrem Kuchen aufgegessen. Ob ihr schlecht ist? Sie ist ja so mager, als käm sie grad aus dem KZ.“
„Ach, die jungen Leute heutzutage. Wer weiß, was sie hat. Und wenn man sich einmischt, dann is es auch nicht recht“, murmelte Gustav.
„Leiser Gustav, sie kann uns doch hören.“ Rosa überprüfte ihre Vermutung und schaute das Mädchen jetzt direkt an. Das Mädchen lief rot an und schaute schnell wieder in die andere Richtung.
„Montevideo. Wie ist es euch dort ergangen?“, fragte Gustav.
Rosa nahm Gustavs Hand:
„Wie soll es denn Masselzweigs schon ergehen. Mein Vater hat wieder Herren-Geschäfte eröffnet, und Damen-Geschäfte, und Hut-Geschäfte. Mein Gott. Er hat viel gearbeitet aber er hat auch viel, viel Geld verdient.“
„Und warum ziehst du nach Berlin,“ fragte Gustav.
„In Montevideo is ja keiner mehr. Meine Eltern und mein Onkel sind lange tot. Meine Schwester auch. Mein Sohn Yossi ist in den 80ern nach Israel ausgewandert. Aber da ist es mir zu heiß. Außerdem lebt meine Enkelin hier.“
„Rosa zog ein Foto aus ihrer Handtasche.
„Schau, da ist sie. Das ist Amira.“
Gustav bemerkte, wie die Blicke des jungen Mädchens vom Nachbartisch langsam zu ihnen herüber wanderten.
„Sie ist ein gutes Mädchen. Ach, Mädchen. 30 mag sie jetzt auch schon sein. Vor 6 Jahren ist sie aus Tel Aviv nach Berlin gezogen. Sie hat‘s nicht mit den Männern weiß du, und soe lebt mit einer Frau zusammen. Yossi hat deshalb ein Theater gemacht. Aber ich halte zu ihr. Wenn nur dieser Indianderschmuck nicht wäre, grauenhaft, oder? Wie sich die jungen Leute zurichten.“ Rosa deutete auf das Foto von Amira, die einen Nasenring trug und einen tätowierten Schwarzen Adler am Hals.
„Gustav, ich hab eine Idee. Amira weiß noch nichts von meiner Ankunft, aber ich weiß wo sie arbeitet. In der Klinik hinter der Residenz Goldbrunnen. Wollen wir sie da morgen überraschen?“, schlug Rosa vor.
Plötzlich mischte sich das Mädchen vom Nachbartisch ein:
„Morgen ist Amira nicht da. Sie kommt erst am Mittwoch wieder!“, sagte das Mädchen und fuhr fort:
„Ich bin Lena, und ich wohne gerade in der Klinik, in der Amira arbeitet, wissen Sie?“
„Ach, so ein Zufall. Du kennst Amira also?“, fragte Rosa und schob das Foto Lena entgegen.
„Ja, das ist sie. Sie ist so cool!“, sagte Lena.
„Und sag mal, mein Liebes, warum wohnst du dort in der Klinik?“, fragte Rosa
„Ich muss lernen, wieder normal zu essen“, sagte Lena und senkte den Kopf
Rosa schaute auf Lenas leeren Teller.
„Na schau,“ sagte Rosa, „der Stachelbeerkuchen hat dir schon mal geschmeckt.“
Lena nickte und begann zu lächeln.
Dann verließen die drei gemeinsam das Café und verabredeten sich für Mittwoch in dem kleinen Park, der zwischen der Klinik und der Residenz Goldbrunnen lag.