Die Sensationsreporterin Karla Klartext bahnt sich den Weg durch eine dichte Menschentraube vor dem Berliner Amtsgericht. Wir schreiben den 28. August 1985. Der erste Tag der Berliner Funkausstellung und der dritte Tag des Kabelpilotprojekts Berlin-West. Aus dem Sendezentrum gibt der Produktionsleiter letzte Anweisungen:„Auf Sendung in 5, 4, 3, 2, 1 – live!“
„Liebe Zuseherinnen und Zuseher in den über 200.000 angeschlossenen Haushalten des Kabelfernsehens! Ich begrüße sie zur Weltpremiere des Berliner Privatfernsehens. Herzlich Willkommen zu Klartext live – dem Magazin für Themen, die die Menschen wirklich interessieren. Wir berichten für Sie heute direkt vom ersten Verhandlungstag im so genannten Türentod-Prozess, wo wir der spannenden Frage nachgehen, ob eine verhexte Eichentür den Witwer Adolf Deutschmann auf dem Gewissen hat. Sind die Aussagen der umstrittenen Augenzeugin Ingeborg Kasupke glaubwürdig? Oder war es doch nur ein tragischer Unfall, wie es der Anwalt der Verteidigung, Dr. Thomas Held, behauptet? Pikantes Detail: Held ist bekennender Homosexueller und ebenso wie die beiden Angeklagten Herbert M. und Detlef T. Teil des Schöneberger Milieus, in dem aktuell die Lustseuche Aids immer mehr grausame Todesopfer fordert. Auch hier könnte es möglicherweise einen Zusammenhang …“
„Das ist doch kompletter Schwachsinn!“ schäumt eine aufgebrachte Stimme aus der Menschentraube.
„Kommen Sie näher und trauen Sie sich vor die Kamera!”, ruft Karla und zerrt ein dunkelblaues Sakko ins Bild. „Sie sind doch der Anwalt von Herbert M. und Detlef T., richtig?“
„Glasklar erkannt, Frau Klartext“, sagt Held, „und zunächst einmal möchte ich meiner Missbilligung Ausdruck verleihen, wie Sie mit Ihrem Sensationsjournalismus Hass und Unruhe gegen meine Mandanten schüren. Die Aussagen der Ingeborg Kasupke sind komplett abwegig!“
„Es war also ein Unfall?“
„Natürlich. Meine Mandanten haben im letzten Jahr ihre Wohnung in Schöneberg fachgerecht renoviert. Dazu gehörte auch der Einbau einer schweren Eichentür zur Abtrennung des Arbeitszimmers.“
„Arbeitszimmer! Der lücht! ’N Puff war dit!“ Eine ältere Dame in blumenbemusterter Kittelschürze drängt Karla Klartext aus dem Bild: Ingeborg Kasupke.
„Herbert und Deeeetlef! Die beeden kenn’ wa hier im Kiez. Mit ihrer Äds-Hilfe hamse uns die Hinterlader ins Haus jeschleppt! Und dit Virus, dit uns alle krank macht. Ne Schande sind se!“
„Frau Klartext“, ruft Anwalt Held, „stellen Sie das sofort richtig! Die Immunschwäche AIDS wird nicht durch das Organisieren von Selbsthilfegruppen übertragen! Meine beiden Mandanten machen sich mit ihrer Aufklärungsarbeit für alle Betroffenen sehr verdient.“
Karla boxt Kasupke und Held zur Seite. „Liebe Zuschauer: Genau diese sogenannte Aufklärungsarbeit hat den Nachbarn Adolf Deutschmann gestört. Mehrfach hat er Besucher der Selbsthilfegruppe im Treppenhaus beschimpft und mutmaßlich auch mit Exkrement gefüllten Luftballons beworfen.“
„Er war ’n unverbesserlicher Nazi“, fällt ihr Held ins Wort. „Das bestätigen ja auch alle Nachbarn. Herr Deutschmann hat bereits in den 30er Jahren Homosexuelle denunziert. Es ist aktenkundig, dass er als junger SS Offizier für mehrere Deportationen nach Sachensausen verantwortlich war. Und seit mehr als einem Jahr hat er meine Mandanten bedroht und die Besucher der Selbsthilfegruppe immer wieder bis in die Wohnung der beiden verfolgt.“
Kasupke platzt der Kragen: „Er war ’n uffrechter Doitscher, der Adi! Er wollte bloss keen Jesindel im Haus!“
Karla schiebt sich erneut vor die Linse: „Kommen wir doch jetzt zu den eigentlichen Ereignissen vom Gründonnerstag, den 4. April. Gegen 16 Uhr trafen drei Mitglieder der AIDS-Selbsthilfegruppe ein – allesamt Herren, die von der Krankheit teilweise schwer gezeichnet …“
Held entreißt Karla das Mikrofon. „Was hat das damit zu tun, wie krank oder gesund … Herr Deutschmann hat an diesem Nachmittag den besagten Personen aufgelauert und sie aufs Übelste beschimpft! Er folgte ihnen dann in die Wohnung und bewarf sie dort mit Kotbeuteln.“
„Dit war Heilerde! Um dit Virus aus die Luft zu ziehn!“, ruft Kasupke.
Held redet weiter: „Um sich vor den Attacken des Angreifers zu schützen, verbarrikadierten sich meine Mandanten und ihre Besucher im Arbeitszimmer. Beim hastigen Schließen der schweren Eichentür muss diese aus der Angel gesprungen und auf Adolf Deutschmann gefallen sein.“
Entnervt übergibt Held das Mikrofon an Karla zurück
„Gut gut. Genau diese Darstellung kennen wir ja bereits“, sagt Karla, „aber Frau Kasupke hat aus ihrer Hinterhofwohnung etwas ganz anderes gesehen!“
Sie wendet sich Kasupke zu: “Erzählen Sie, was Sie ihre Geschichte, Frau Kasupke, das interessiert unsere Zuschauer wirklich sehr!”
„Also, ick wollt an dem Nachmittag jrad ’n Eisbein kochen, da hör ick n Fauchen und Schrein aus’m Vorderhaus. Von meener Küche aus kann ick ja direkt ins Arbeitszimmer von den beeden Homos kieken. Ick kieck also rüb’r und seh, wie diese Tür in Flammen steht! Janz hell! Und ick hör janz deutlich, wie zwei Mädels rufen: ‚Nieder mit dir! Nieder! Brennen sollste!‘ Dit Feua ging bis an die Decke! Ja, und dann war plötzlich alles still!“
„Mögen Sie unseren Zuschauern erzählen, was Ihr Eindruck ist? Warum musste Adolf sterben?!“
„Die beeden warmen Brüder ham die Tür verhext! Dit sin janz böse Menschen. Wahrscheinlich ham die ooch dit AIDS fabriziert … und wolln uns alle umbringen wollen die uns.“
Thomas Held drängt sich zwischen Kasupke und Klartext. „Beenden Sie diese Sendung sofort. Ich werde Sie, Frau Kasupke, wegen Verleumdung, und Sie, Frau Klartext, wegen Verbreitens von Lügen verklagen. Alle Untersuchungen, die direkt nach dem Ereignis eingeleitet wurden, kommen zum Ergebnis, dass es einfach ein Unfall war. Kein Feuer, kein Fauchen, Keine Mädchen. Nichts! Und ich hoffe wirklich, dass private Fernsehsender in Zukunft dazu verpflichtet werden, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Sonst sehe ich für dieses Medium wirklich schwarz. Ganz schwarz.“
Held tritt verärgert aus dem Bild.
Karla Klartext wendet sich ein letztes Mal der Kamera zu:
„Danke, für diese Meinung, Herr Held. Wir vom Privatfernsehen glauben, dass wir mehr Pluralismus brauchen und dass die Menschen ein Recht darauf haben, alternative Wahrheiten zu erfahren! Das, meine Damen und Herren, war die erste Ausgabe von Klartext live! Ich gebe zurück ins Sendezentrum.