König*innen der Nacht

Zwei Menschen betreten fast zeitgleich eine Neuköllner Kneipe. Beide scheinen erleichtert, dass ihr Gegenüber einigermaßen dem Profilbild entspricht. Sie stellen sich gegenseitig als „Dani“ und „Maxi“ vor und platzieren sich erwartungsvoll gegenüber.
„Hey, schön dass es geklappt hat“, sagt Dani und streckt Maxi die Faust zum Gruß entgegen, „dann erzähl ich einfach mal von mir. Ich heiße Dani, 2 mal 19 years on this fucking amazing planet. Ich bin erst ein paar Wochen in der Berlin, aber der Vibe der City. Wow. Ein paar Freunde aus Miami leben schon länger hier und haben in Neukölln ein paar Wohnungen gekauft. Die haben jetzt auch diesen hispanophilen Kindergarten in der Schillerpromenade aufgemacht. „Nuevos chicas en en bloque“. Kennst du? Und sie haben wir diesen ehemaligen Sexshop in der Friedelstraße vermittelt. Da mach ich in 2 weeks mit meinem T-Shirt Label einen kleinen Store auf. Temporary. Pop Up. Oder Flagship. Who cares. Ich habe mein Label übrigens NFTees genannt. Wie findest du meinen Style? Ich sag ja immer dress like JFK, speak like Hemingway, work like Henry Ford and party like Gatsby. Die Shirt Designs sind alle Unikate die ich über ein paar Connections in Indien produzieren lasse. Die Artworks macht meine Sister Soul Kate oder me, myself and I. Das Tattoo auf meinem Oberarm ist übrigens ein Hei Tiki. Das hat ein echter Maori gestochen. Hat sich aber dann entzündet und ich hatte vier Tage hohes Fieber mit Halluzinationen. Nur die Malaria in Myanmar war schlimmer.
Eigentlich komme ich aus Sydney. Oder Cape Town. Naja, zumindest bevor ich in London gelebt hab. Crazy. Meine Mutter war Pilotin bei Lufthansa, mein Vater hat für Deutsche Botschaften gearbeitet. The world was my kindergarden. And now it’s my playground. Ich habe in Dubai ein bisschen mit crypto currencies experimentiert und baue gerade an einer eigenen Währung. Ich kann dir da nachher eine tolle App zeigen.
Weisst du, Erfolg ist für mich kein Ziel. Erfolg ist der Weg. Und das nicht nur im Job. Auch sonst. Die Love of my life ist in Ecuador von einer Zip Line in den Dschungel gestürzt. Die Leiche wurde nie gefunden. Danach hab ich alles geändert. Die Wohnung in der Lower Eastside verkauft. Erstmal den Kopf frei kriegen auf einer Ranch in Colorado. Seitdem lebe ich vegan, mach Yoga und so. Mann, das Leben ist so kurz.
Ich hab den old school 24 Stunden Tag auf 3 mal 8 Stunden aufgeteilt. Damit bin ich super effizient. Ich stehe um 6 auf. 90 Minuten Sport. Dann 90 Minuten Crypto-Kram. Oder bis ich 3k verdient hab. Dann die Morning Routine mit Achtsamkeitsexercise am Landwehrkanal. Von 10 bis 12 dann die Arbeit am Fashion Label. Von 12 bis 2 schlafe ich kurz und dann beginnt Tag 2. Neben ein paar Charity Projekten und Sport treff’ ich dann auch ein paar Freunde und mach Networking. Tag 3 also ab 22 Uhr gehört dann ganz den Global Stock Markets. Naja, und ehrlich gesagt halte ich mir so ein bis zwei Time Frames am Tag frei für neue Kontakte. New love, new life. Du verstehst?“
„Jaaa, schon,“ sagt Maxi, „also, dann erzähl ich mal was von mir. Ich bin Maxi, 37. Und ich arbeite seit einem Jahr beim Bezirksamt Lichtenberg. In der Meldestelle. Das war ein riesiger Schritt für mich. Meine Ausbildung hab ich ja in Spandau gemacht. Ich bin in Falkensee geboren und da lebe ich noch richtig gerne. Naja, mein Arbeitsweg ist jetzt schon sehr weit. Die Bahn fällt ja ständig aus und mit dem Auto. Entweder Stau oder diese Klimakleber. Ich hab einen Versetzungsantrag zurück nach Spandau gestellt. Reinickendorf wäre auch ok. Meine Eltern haben ein Reihenhaus in Tegel gekauft mit einer Einliegerwohnung. Und der Garten wär halt super für Garfield. Das ist mein Kater. Sonst. Letztes Jahr war ich mit meinen Eltern auf Rhodos. Im Mai. Das war ganz schön kalt. Auch das Meer. Und All inklusive. Das war natürlich schön. Jeden Tag das Buffet. Und tatsächlich. Man konnte auch Ausflüge buchen in dem Club. Und bei einem wäre auch so eine Zip Line Fahrt dabei gewesen. Aber. Ich hab es dann doch nicht gemacht.“
Maxi hört auf zu sprechen und knetet sich die Hände. Danis Blick geht stabil durch Maxi hindurch. Plötzlich taucht ein Kellner am Tisch auf: „Oh sorry guys, euch hab ich ja ganz vergessen! What can i get you? Wir haben heute einen Moscow Mule mit Spreewaldgurke oder ne Bloody Mary mit echtem Schweineblut… äh Spaß mit Organic Rote Beete Saft von einem kleinen Gnadenhof im Oderbruch.“
Dani und Maxi lächeln verlegen und weichen den Blicken des Kellners aus. Dani tippt bedeutungsschwanger auf seine Apple Watch und verzieht das Gesicht zu einer ernsten Mine: „Oh, damn. Ich muss glaub ich langsam nach Hause, der Stock Market in Sydney macht bald auf und ich wollte noch …“
Maxi zieht die Augenbrauen nach oben und entsperrt den Smartphone-Bildschirm: „Ah okay, naja, wenn ich um halb 1 den Regio am Alex kriegen will müsste ich jetzt auch so langsam…“
„Na dann, Ciao Kakao“, sagt der Kellner flapsig und geht davon.
Maxi und Dani stehen auf. Ihre Umarmung wirkt seltsam eckig und das gegenseitige „Ciao“ geht im Kneipenlärm unhörbar unter.
Doch plötzlich verharren beide in dieser fast berührungsfreien Umarmung. Dani schließt die Augen und sagt: „Königin der Nacht? Hammer!“
„Du meinst… den Duft?“, fragt Maxi unsicher, „ja, das ist ein Parfum von Jermeny Fragrance mit Königin der Nacht? Über die Pflanze gab es neulich auch ne Doku auf Phoenix. Das ist so ein Kaktus aus Lateinamerika…“
„Der „Kaktus“ heißt Selenicereus Grandiflorus und ist ein Epiphyt“, unterbricht Dani, „der auf Bäumen und Felsen wächst. My Love und ich haben die damals in Ecuador gesehen. Kurz bevor das mit der Zip Line …“
Danis Augen werden feucht. Beide lösen die Umarmung. Ihre Blicke treffen sich erneut.
„Sag mal, wollen wir nicht vielleicht doch was trinken?, fragt Maxi, ich kann auch wirklich eine Bahn später nehmen.
„Deal, sagt Dani, Sydney kann auch noch ein bisschen warten. Und ich hab ich noch nie einen Moscow Mule mit Spreewaldgurke getrunken. Amazing!“

Jörg Olvermann
Jörg Olvermann, Jahrgang 1971, zog mit 21 Jahren nach Berlin, studierte an der UdK und arbeitet als Berater, Konzepter für Digitale Medien.