Redcap und der böse Wulf

(von Jörg Olvermann)

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Bei der Mutter

Silvia Kappmann schaute besorgt aus dem Küchenfenster über die Garagen der Plattenbausiedlung am Rande Greifswalds.
„Weißt du eigentlich, wie gefährlich Berlin ist. Und vor allem dieses Neukölln! Erst gestern haben sie da wieder eine Deutsche angespuckt, weil sie kein Kopftuch getragen hat. Hab ich gelesen auf …“
„Lass mich raten“, unterbrach sie ihr 19-jähriger Sohn Redcap, „das hast du auf Facebook gelesen, in deiner AfD-Nazi-Gruppe!“
Redcap setzte entschlossen seine rote Basecap auf: „Mama, egal was du sagst. Ich fahre auf jeden Fall nach Berlin, um Oma zu besuchen! Sie hat sich so schwach angehört am Telefon!“
„Ach, du und deine Oma“, seufzte Silvia, „du warst ja immer schon ihr Liebling. Was für eine sündteure rote Kappe sie dir da geschenkt hat. Aber fahr du nur nach Neukölln. So lange du dich nicht gleich in ein Kopftuchmädchen verliebst!“
Redcap verdrehte die Augen. Dann schnappte er sich seinen Rucksack und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.

Im grünen Flixbus

Kurz vor 15 Uhr stieg Redcap in den grünen Flixbus. Die Worte seiner Mutter wirkten noch nach. In ein Kopftuchmädchen verlieben. Wie absurd. Wohl eher würde er wohl sein Herz an einen süßen Araber verlieren. Redcap kauerte sich im hinteren Teil des Busses auf einen Fensterplatz und googelte auf dem Handy Omas Adresse: Saalestraße 37, 12055 Berlin
„Mist!“ fluchte er. Das WLAN im Bus war einfach zu langsam, um die Karte zu laden.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte eine fremde Stimme hinter ihm und ehe er antworten konnte, setzte sich ein schrankgroßer Kerl neben ihn.
„Ich bin Werner-Ulf, aber alle nennen mich Wulf“, stellte sich der Fremde vor und reichte Redcap die Hand. Wulfs Arme waren dick wie Baumstämme, auf seine Handrücken waren Runen tätowiert.
„Ey, suchst du was, was Laune macht“, fragte Wulf, „Speed, Weed, GHB oder Tina? Alles am Start!“ Wulf klopfte mit einer Hand auf die Außentaschen seiner schwarzen Bomberjacke.
„Tina kenn ich nicht“, sagte Redcap etwas verlegen, „aber vielleicht kannst du mir sagen, wie ich in Berlin zur Saalestraße 37 komme.“
„Wer wohnt denn da?“, fragt Wulf neugierig.
„Meine Oma, Inge Kappmann. Sie ist jetzt ganz allein in ihrer großen Wohnung und sehr krank und schwach.“
„Krank? Allein? Große Wohnung? Deine Oma ist wohl ne reiche Witwe?“

Wulfs Augen funkelten.
„Naja“, sagte Redcap, „immerhin hat sie mir diese Kappe geschenkt. Echt Nike. Aber sag mal, wie komme ich denn jetzt zur Saalestraße 37?“
„Das ist easy“, sagte Wulf, „du steigst am Alex in die U8 und dann am Herrmannplatz in den Bus M41 bis zum Bahnhof Sonnenallee. Das geht superfix!“
Redcap bedankte sich artig. Den Rest der Fahrt stellte er sich schlafend. Wulf kam ihm ein wenig unheimlich vor.
Als sie in Berlin ankamen, trennten sich ihre Wege. Und während Redcap sich mit der BVG auf den Weg Richtung Neukölln machte, lachte sich der böse Wulf ins Fäustchen. Mit seinem Rennrad hatte er jetzt mindestens eine Stunde Vorsprung, der alten schwachen Oma in ihrer großen Wohnung einen Besuch abzustatten.

Die Großmutter und der böse Wulf

Nur 20 Minuten später erreichte Wulf die Saalestraße 37. Er klingelte bei Oma Kappmann und flötete in die Haussprechanlage: „Hier ist DHL, Frau Kappmann, ich bringe ihnen ein Paket aus Greifswald!“ Der Türöffner surrte. In der Wohnung angekommen, fand Wulf Oma Kappmann im Bett liegend vor. Sie trug eine weiße bestickte Schlafmütze und sagte mit schwacher Stimme: „Ach, das Paket wird von meinem Enkel sein. Stellen Sie es nur da hin.“
Wulf sah sich in der Wohnung um. Feinste Vintage-Möbel aus dem letzten Jahrtausend. Die Hipster auf Ebay-Kleinanzeigen würden ein Vermögen dafür blechen!
Zuckersüß wandte er sich an die kranke Großmutter:
“Wir von DHL haben gerade eine Werbeaktion. Kosten Sie doch mal von unseren neuen gefüllten Pralinen. Edle Tropfen!“

Oma Inge nahm eine Praline in den Mund und kaute.
„Die schmecken aber bitter!“, sagte sie und verzog das Gesicht.
„Das ist feinstes GHB, Frau Kappmann. Kann man als Droge auf Partys nehmen, oder um reiche Witwen außer Gefecht zu setzen!“ Inge Kappmann verdrehte die Augen und wurde bewusstlos. Wulf zückte sein Handy und informierte seinen Komplizen: „Hey Matze, ich hab wieder was für uns! Hol den Transporter. Saalestraße 37, 1. Stock. Hier stehen ein paar schöne Antiquitäten rum. Ich such schon mal überall nach Schmuck und Kohle.“

Redcap auf der Sonnenallee

Am Herrmannplatz / Ecke Sonnenallee blockierten dicke Autos die Fahrbahn. Seit 30 Minuten versprach die Anzeige den nächsten M41 in vier Minuten. Redcap saß gelangweilt auf der Bank im Wartehäuschen und scharrte mit den Füßen auf dem Bürgersteig. Da stellte jemand eine gelbe Plastiktüte mit arabischen Schriftzeichen neben ihm auf den Boden. Sie roch sehr exotisch. Redcaps Blick folgte der Tüte nach oben. Die Tüte hing an einer Hand aus Metall. Der Arm, der auf die Hand folgte war eine Prothese aus blankem Stahl. Schließlich blickte er auf und dem Träger der Tüte direkt in die Augen.
„Bäckerei Damaskus“, sagte der Fremde ungefragt, „die besten Baklava hier in Neukölln. Magst du probieren?“
Redcap nahm ein Stück und biss hinein, ohne den Blick von seinem Sitznachbarn zu lösen.
„Oh, das schmeckt aber wirklich sehr gut“, sagte er. Ihm wurde warm im Bauch und sein Herz pochte.
Plötzlich hielt der M41 mit quietschenden Bremsen an der Haltestellte.
„Da muss ich wohl mitfahren“, sagte Redcap und der Fremde nickte schüchtern.
Beim Einsteigen drehte sich Redcap noch mal um. Der junge Mann winkte ihm freundlich nach und lächelte. Als sich der Bus von der Haltestelle entfernte, wich das warme Gefühl im Bauch einem schmerzhaften Ziehen.
An der Bushaltestelle blieben nicht nur Redcaps Herz zurück und die letzten Zweifel, dass er vielleicht doch nicht schwul war. Sondern auch sein Smartphone, das er neben sich auf der Bank des Wartehäuschens vergessen hatte.

Großmutter, warum hast denn …?

Noch benommen von der Begegnung an der Haltestelle kam Redcap bei seiner Oma an. Vor dem Haus begrüßte ihn ein kräftiger Mann, der gerade einen Möbeltransporter in zweiter Reihe parkte. Redcap sprang durch die offene Haustür nach oben. Erst dort, als er auch die Wohnungstür offen vorfand, kamen ihm Zweifel, ob es seiner Oma wirklich gut ging.
„Oma! Oma! Warum ist die Tür offen? Wo bist du denn?“, rief er ängstlich.
Eine Stimme klang aus dem Schlafzimmer: „Hier mein Junge. Ich liege im Bett!“
Redcap fand seine Großmutter tief unter der Bettdecke begraben vor. Ein Handtuch bedeckte ihr Gesicht. Ihre bestickte Schlafkappe schaute darunter hervor.
„Was ist los, Großmutter? Warum liegst du da so eingewickelt?“, fragte er erstaunt.
„Ich lasse gerade eine Creme einwirken, mein Junge“, antwortete Oma Inge mit ungewohnt kratziger Stimme.
Redcap schaute an seiner Oma auf und ab.
„Sag mal, hast du zugenommen?“, fragte er.
„Der Arzt sagt, dass ich Wasseransammlungen habe“, antwortete die Großmutter.
„Hier mein Junge, iss eine von diesen köstlichen Pralinen!“ Oma hielt Redcap eine Pralinenschachtel hin. Als Redcap die Hände seiner Großmutter sah, war er sehr verwundert.
„Oma, warum hast du denn so große Hände? Und seit wann hast du da Tattoos?“
Redcap nahm seiner Oma das Handtuch vom Gesicht und gerade in dem Moment, als er vor Schreck aufschreien wollte, spürte er einen harten Schlag auf dem Hinterkopf.
„Mensch, das war aber knapp Matze“, rief Wulf seinem Komplizen zu. Matze lachte hämisch, legte den Baseballschläger zur Seite und beide fesselten und knebelten den bewusstlosen Redcap.

Der Jäger

Als der M41 abfuhr, blieb Yassin allein an der Bushaltestelle zurück. Warum war der lächelnde Fremde so schnell in den Bus gestiegen? Hatte ihn vielleicht seine Prothese verschreckt? Yassin steckte sich noch ein Stück Baklava in den Mund. Da bemerkte er ein herrenloses Smartphone neben sich. Ob es dem Fremden gehörte? Auf dem Display stand eine Adresse: Inge Kappmann, Saalestraße 37. Yassin überlegte nicht lange. Er nahm das Telefon und folgte dem Unbekannten mit dem nächsten Bus.
Als Yassin in der Saalestraße ankam, klopfte sein Herz heftig. Er lief das Treppenhaus nach oben und betrat die Wohnung. Was herrschte hier nur für eine Unordnung? Yassin sah sich um, ging leise von Zimmer zu Zimmer und stieß im Wohnzimmer schließlich auf zwei Männer, die sich gerade über den Inhalt mehrerer ausgeschütteter Schubladen hermachten. Auf dem Sofa sah er zwei Gefesselte, eine alte Frau und den Unbekannten von der Bushaltestellte. Die beiden Einbrecher erblickten Yassin und rannten auf ihn zu. Einer der beiden bedrohte ihn mit einem Baseballschläger. Yassin ließ die Baklava-Tüte fallen und reckte seinen Stahlarm in die Luft.

Jedes Märchen hat ein Ende

Natürlich schien der Kampf aussichtlos. Zwei schrankgroße Männer und ein Baseballschläger gegen einen „Behinderten“. Aber Yassin wäre nicht Yassin, wenn er jetzt aufgegeben hätte. Er, der mit seinen 22 Jahren schon mehr erlebt hatte, als andere in einem ganzen Leben. Den Bürgerkrieg in Syrien. Den Schuss ins rechte Schultergelenk. Die Amputation in der Türkei. Die Balkanroute. Das Lageso. Die Massenunterkunft im Flughafen Tempelhof. Die Prügelei mit einem Mitbewohner, weil Yassin ihn angeblich in der Dusche „so schwul angeschaut“ hatte.
Den ersten Schlag mit dem Baseball-Schläger konnte Yassin mit dem Stahlarm abwehren, den zweiten mit Hilfe einer geschickten Drehung sogar umleiten, so dass er den Schläger selbst mit der linken Hand zu fassen bekam. Eine weitere Drehung später traf der Schläger Matze im Genick. Wulfs Komplize sackte in sich zusammen. Blieb noch der böse Wulf selbst. Dumm nur, dass der bei seinem Angriff auf Yassin auf der Baklava-Tüte ausrutschte und mit dem Kopf auf Oma Kappmanns rotem Marmortisch aufschlug. Schach Matt!
Yassin eilte zu Redcap und Oma und befreite sie aus den Fesseln. Langsam kamen beide zu sich. Als die herbeigerufene Polizei die Bösen schließlich hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, blieben die drei noch eine Weile zusammen, um das Geschehene auszuwerten. Oma kochte Kaffee, Yassin servierte die übrig gebliebenen Baklava auf einem Teller und Redcap zog sich verlegen sein rotes Basecap ins Gesicht. Das warme Gefühl in seinem Bauch stellte sich wieder ein und als er bemerkte, dass Yassin seine zärtlichen Blicke erwiderte, spürte er in seiner Hose …

… naja, das wäre jetzt wohl ein anderes Märchen.

 

Jörg Olvermann
Jörg Olvermann, Jahrgang 1971, zog mit 21 Jahren nach Berlin, studierte an der UdK und arbeitet als Berater, Konzepter für Digitale Medien.