(von Ricarda Brücke)
Das Brummen des Smartphones durchdrang ihren leichten Schlaf. Sie griff nach dem Gerät, spürte seine Schwere auf ihrer Brust. Als sie es anhob, blendete das kalte Licht des Displays ihre Augen. Sie blinzelte und las die Nachricht: Wir brauchen für die Präsentation morgen dringend ein Bild von Bahati auf A2-Format!!!!! (Fünf Ausrufezeichen) Die Präsentation war um neun Uhr dreißig. Wie viel Uhr war es jetzt? Fünf. Sie schrieb zurück: Aber wir haben doch Bilder von ihr in der Powerpoint. Die Antwort kam so prompt, Julie war sich sicher, dass Stefan, ihr Chef, sie vorformuliert hatte: Das hat nicht die gleiche Wirkung. Wir müssen die Leute für das Thema sensibilisieren. Das funktioniert nur mit einem großformatigen Bild. Er schickte ihr das Bild auf dem Bahati zwischen den zwei Männern zu sehen war, von denen einer ihr in den Ausschnitt griff und dabei war, das T-Shirt, das sie trug, zu zerreißen, während der andere daneben stand und debil grinste. Julie schrieb zurück: Okay, ich kümmere mich darum. Sie setzte sich im Bett auf und googelte, welcher Copyshop am frühesten aufmachte. Pünktlich um halb zehn stand Julie neben Stefan und hielt das Bild von Bahati in die Höhe. Sie war faktisch dahinter verschwunden. Von den Leuten, die im Auditorium saßen, sah Julie niemanden. Sie hörte die volltönende Stimme von Stefan neben sich: Seit Ethikminister Simon Lokodo 2013 das Anti-Pornographie-Gesetz erlassen hat, werden in Uganda täglich Frauen auf der Straße entkleidet, weil Männer, das was sie tragen, als unzüchtig empfinden. Täglich landen Frauen im Gefängnis, weil sie mit ihrer Kleidung Männer irritieren. Bei dem Wort irritieren machte Stefan mit beiden Händen die Zitat-Geste. Die Afrikanische Union hat 2015 zum Year of Women’s Empowerment deklariert. Wir müssen sicherstellen, dass …
Die Rückmeldungen nach dem Vortrag waren gut, meinte Stefan später im Büro vor versammeltem Team. Wir haben in diesem Jahr die Möglichkeit, einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Frau zu leisten. Das hier – er zeigte auf den Schriftzug Year of Women’s Empowerment – soll nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben. Das heißt natürlich auch, dass wir alle unser Bestes geben müssen. Stefan blickte in die Runde der mehrheitlich weiblichen Anwesenden: Ich erwarte von euch, dass ihr euch voll für eure Schwestern in Afrika einsetzt. An Julie gewandt, sagte er: Nadine und du, ihr müsst das morgen mit dem Stand auf dem Flow Markt allein durchziehen. Ich kann niemanden als Ablöse schicken. Ich meine, es ist super wichtig mit dem Verkauf von handgemachtem Schmuck Geld für eine Aufnahme des Massai-Frauenchors zu sammeln, aber wir haben hier noch eine ganze Reihe anderer Projekte, die wir voranbringen wollen. Klar? Julie schaute zu Nadine rüber und nickte. Samstagnachmittag auf dem Markt erhielt Julie eine SMS von Stefan: Sag mal, hast du eigentlich daran gedacht, die E-Mail an AfricAvenir zu schicken? Scheiße! Das hatte sie vergessen. Julie entschuldigte sich bei Nadine und ging kurz hinter den Stand, um Stefan anzurufen. Sorry, meldete sich sie bei ihm. Ich hab wirklich nicht mehr daran gedacht. Stefan seufzte: Es ist völlig in Ordnung, das kommt schon mal vor, aber die E-Mail hätte schon letzte Woche rausgemusst. Es hätte dir ja vielleicht irgendwann mal auffallen können, dass du es vergessen hast, oder nicht? Ich meine, das Projekt ist eines unserer Top-Prioritäten und du arbeitest schon ein halbes Jahr daran. Ich meine, dagegen ist diese Schmuck-Geschichte echt ein Kinkerlitzchen. Sorry, sagte Julie noch einmal. Es kann echt sein, dass die uns als Kooperationspartner abspringen. Ich muss mich jetzt weiter um die Sache mit den Chibok Girls kümmern, meinte Stefan und legte auf. Julie fragte sich, wo sie ihren Kopf hatte.
Am Sonntag saß Julie an ihrem Schreibtisch im Großraumbüro, als sie den Schlüssel im Schloss hörte und die Eingangstür geöffnet wurde. Zahir, der kenianische Praktikant, machte ein erstauntes Gesicht, als er Julie erblickte: Was machst du hier? Julie sagte: Ich überarbeite noch einmal das Konzept für die Schneiderinnen-Werkstätten in Mosambik und fasse zusammen, was bei unserem Treffen mit der Chefdesignerin Trude Weill herausgekommen ist. Ich muss das alles in einer E-Mail an AfricAvenir schicken. Zahir schüttelte den Kopf: Heute? Julie zuckte mit den Schultern: Was machst du denn hier? Zahir holte grinsend einen Stapel CDs aus seinem Rucksack und hielt sie Julie hin. Auf dem Cover der obersten CD war Marianne, die Gallionsfigur der Französischen Revolution abgebildet. Kennste Coldplay?, fragte Zahir. Er ging an seinen Schreibtisch. Die CDs hat mir ein Freund ausgeliehen. Ich kopiere sie mir auf meinen MP3-Player. Beide gingen für sich still ihren Beschäftigungen nach. Nach einer Weile fragte Zahir: Und, fertig mit der Mail? Julie nickte: Jetzt muss ich nur noch … mit dir Pizza essen gehen, beendete Zahir den Satz für sie. Er stellte sich lächelnd und mit den Händen in seinen Taschen vor ihren Schreibtisch: Los, komm schon! Okay, sagte Julie. Zahir war hingerissen von der Pizza mit den getrockneten Tomaten und der Creme fraîche. Hammer, meinte er und schob Julie das Brett hin: Probier mal. Ich meine, ich komme echt oft hier her, um Pizza zu essen. Die ist definitiv mein Favorit. Als sie aufgegessen hatten, überredete Zahir sie noch nach nebenan in eine Bar zu gehen. Die Kellnerin war so schnell an ihrem Tisch, Julie hatte überhaupt keine Gelegenheit gehabt, einen Blick auf die Karte zu werfen. Na gut, es gab nur fünf Cocktails. Eine Purple Hibiscus Margerita, meinte Julie. Wenig später wurde ihr ein dickwandiges Ikea-Glas vor die Nase gestellt. Das ist aber ganz schön groß, meinte Julie, … und verdammt lila. Ja, wow, was für eine Farbe, stimmte ihr Zahir zu, der sich einen Moscow Mule bestellt hatte. Sieht irgendwie giftig aus. Schmeckt aber nicht schlecht, meinte sie, als sie ihren Drink probiert hatte. Es war echt nett mit Zahir, der ihr viele Fragen über ihre Familie und ihren Herkunftsort stellte. Irgendwann vibrierte das Smartphone, das Julie auf den Tisch gelegt hatte. Zahir warf einen Blick darauf und verzog das Gesicht: Stefan. Julie nahm das Handy zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ es über ihrem Drink baumeln. Zahir lachte und nickte: Ja, Mann, los! Es musste etwas mit der Wirkung des Alkohols zu tun haben, aber im nächsten Moment sah Julie ihr Smartphone in der lilafarbenen Flüssigkeit schwimmen. Sie blickte ungläubig auf das Blinken in ihrem Cocktailglas, bis es schließlich erstarb. Dann holte sie das Gerät aus dem Glas und legte es wie einen toten Fisch auf eine kleine weiße Papierserviette. Zahir konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Woman’s empowerment, sagte er als es ihm gelungen war, wieder Luft zu holen.