(von Ricarda Brücke)
Die Augustsonne färbte den Asphalt golden, als Elsa mit schnellen Schritten die Choriner Straße hinunter lief. Sie kam direkt aus der Agentur, hatte heute früher Schluss gemacht, musste zu ihrer Freundin Kim. Ein Notfall. Kim war mit den Nerven am Ende, und das schon seit geraumer Zeit. Genauer gesagt, seit sie Mutter eines Schreikindes geworden war. Sie war bereits bei zahlreichen Ärzten, Homöopathen und Gurus gewesen, doch bislang hatte kein Ansatz Wirkung gezeigt. Beim letzten Mal hatte ein karibischer Exorzist versucht, den „Gewittergeist“, der das Kind wohl besetzt hielt, auszutreiben. Elsa fragte sich, was für eine Geschichte sie diesmal zu hören bekam. In ihrer Tasche vibrierte das Handy. Oh, neee, das war sicher wieder ihr Chef! Elsas Hand suchte das Telefon. Schlimmer, es war ihre Mutter. In dem Moment, als sie die grüne Taste betätige, ergoss sich ein Wortschwall in Elsas Ohr. Es hatte einen Wasserrohrbruch gegeben. „Das ist jetzt der Dritte in unserer Familie“, ereiferte sich ihrer Mutter, „erst bei Tante Gerti, dann bei Oma Irmgard und jetzt hier bei mir!“ In der Tat merkwürdig. Elsa fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Eine chinesische Glückskeks-Stimme in ihrem Kopf sagte: Stalke Gefühle blechen sich ihle Bahn. Elsa gab ihrer Mutter zu verstehen, dass sie mit ihrer schwierigen Lage sympathisierte und erklärte dann, dass sie auf dem Weg zu Kim war. „Hat das Kind aufgehört zu schreien?“, wollte ihre Mutter wissen. „Nein? Ach, die hat‘s aber auch nicht leicht … Oh, der Klempner.“ Elsa versprach ihrer Mutter, sie heute Abend noch einmal anzurufen. Die Mutter hatte bereits aufgelegt.
Ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene fuhr an ihr vorbei. Elsa zuckte zusammen. Als sich ihre Lungen wieder mit Luft füllten, dachte sie daran, was ihrem Chef letzte Woche zugestoßen war. Nach dem Besuch bei einem schwierigen Kunden hatte er auf der Straße einen epileptischen Anfall erlitten. Minutenlang war er ohne Bewusstsein gewesen. Als er die Augen aufschlug, hatte sich eine gut aussehende, blonde Rettungsdienstfahrerin mit einer verspiegelten Fliegerbrille über ihn gebeugt. In der Brille konnte er sein totenbleiches Gesicht sehen, in doppelter Ausführung. Im nächsten Moment war Heike Makatsch neben der Rettungsdienstfahrerin aufgetaucht und hatte gefragt, ob alles in Ordnung sei. An diesem Erlebnis hatte ihr Chef noch schwer zu knabbern. Ständig erzählte er Elsa von neuen Details, an die er sich nun scheinbar wieder erinnerte. Natürlich war mit epileptischen Anfällen ebenso wenig zu spaßen wie mit Herzproblemen. Die Herzprobleme hatte Elsas Freund. Der Herzschmerz kam anfallartig. Peter führte ihn auf Stress bei der Arbeit zurück. Er arbeitete bei VW in Wolfsburg und war für die Wartung der Montagestationen verantwortlich. Ein Fließbandausfall von wenigen Minuten konnte den Autohersteller gleich mehrere zehntausend Euro kosten. Geld, das Peter zu verantworten hatte. Sie kam jetzt an dem kleinen italienischen Restaurant vorbei, in das Peter und sie öfter gingen. Zu Elsas Überraschung sah sie ihn jetzt dort sitzen, draußen unter einem weißen Sonnenschirm, der wie eine überdimensionale Parabolantenne aussah. Zu ihrer noch größeren Überraschung saß er dort mit einer unbekannten Frau, deren Hand er hielt. Herzprobleme! Peter sah sie nicht. Elsa lief einfach weiter geradeaus. Ein merkwürdiges Gefühl stieg ihre Beine hinauf. Das Gefühl durchflutete ihr Becken, drehte ein paar Runden in ihrem Bauch und schoss dann wie aus einer Wäschetrommel heraus in Richtung Brust.
Es war unklar, wie lange Elsa gelaufen war. Irgendwann fand sie sich vor einer Backsteinmauer wieder. Auf die Mauer war mit schwarzer Farbe ein großer Kreis gezeichnet worden. Elsa fiel auf, dass die Backsteine innerhalb des Kreises vibrierten. Als sie ihre Hand nach den vibrierenden Steinen ausstreckte, verschwanden ihre Fingerspitzen in der Mauer. Ohne noch einen weiteren Gedanken zu fassen, holte Elsa mit beiden Armen Schwung und sprang kopfüber durch den Kreis. Sie kam hart auf dem Bürgersteig vor ihrem Wohnhaus auf. Gerade als sie auf die Knie gekommen war und die Hautabschürfungen an ihren Händen begutachtete, öffnete sich die Haustür und der Nachbar mit der Glatze und dem Bart kam ihr mit seinem Rennrad entgegen. Es war der Nachbar, der ihr jeden Tag begegnete, der Nachbar, der immer so grimmig schaute. Elsa kannte ihn nur vom Grüßen. Warum er so grimmig guckte, das wusste sie nicht. Zu ihrer Überraschung lächelte der Nachbar heute. Er stellte sein Fahrrad ab, kam auf sie zu und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Er drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Willkommen in deiner eigenen Geschichte“, sagte er.